Über das Projekt

Das regionale Gedächtnis – Zur Einleitung
Gisela Parak

Wieviel Anschauung braucht das Gedächtnis? Was nützt Vergegenwärtigung, wenn die Substanz, auf die sie sich bezieht, unwiederruflich verloren ist? Und wenn wir uns zu erinnern meinen, erinnern wir uns dann an das, was wir selbst wirklich erlebt haben oder an das, was uns seit frühester Kindheit erzählt und in Bildern gezeigt worden ist?

(Diethart Kerbs / Sophie Schleußer, Fotografie und Gedächtnis. Mecklenburg-Vorpommern, 1997)

Als früherer Firmensitz und Produktionsstätte der optischen Manufakturen „Voigtländer“ und „Rollei“ wird Braunschweig gerne als „Fotostadt“ betitelt. 1971 schloss das Voigtländer-Werk seine Braunschweiger Pforten, die abgespaltene Rollei-Tochter Franke & Heidecke GmbH musste 2009 Insolvenz anmelden.

Das Ausstellungsprojekt Das regionale Gedächtnis sucht nach der Bedeutung der Fotografie in der Region Braunschweig und in Niedersachsen. Statt eines Verweises auf die Vergangenheit der fotografischen Technik übersetzt das Projekt die These der „Fotostadt“ in die Gegenwart. Auf den Fährten wichtiger in Niedersachsen agierender Fotografen des 20. und 21. Jahrhunderts haben Mitglieder des Museums, Freunde und eingeladene Gäste Arbeiten angefertigt, die sich auf bildliche Spurensuche historischer-kultureller Ereignisse und Traditionen in der Region begeben. Sie interpretieren fotografische Vorläufer neu, erörtern in ihren künstlerischen Kommentaren wichtige Ereignisse, Momente und Orte der kulturellen Identität der Region und stellen bildlich ihre Sichtweisen und Statements vor.

Die Fotografie wird von den beteiligten FotografInnen als Medium der Vergegenwärtigung von Geschichte eingesetzt, die Momente und Ereignisse kritisch befragt und untersucht. Die FotografInnen legen so Zeugnis ab über die Eigen- und Besonderheiten ihrer Stadt und Region, sie hinterfragen aber zugleich die tradierten Überlieferungen und die mentalen Bilder, die sich in allgemeinen Annahmen und Klischees widerspiegeln.
In den diversen Rubriken, die sich aus diesen fotografischen Ansätzen ergeben haben, nimmt die Auseinandersetzung mit der architektonischen Substanz der Region einen großen Stellenwert ein. Was sind die Wahrzeichen der Stadt, haben diese auch heute noch eine Bedeutung für das eigene Leben und welches Bild von Stadt haben dessen Bewohner gemeinhin im Kopf? Auch Braunschweig ist eine Stadt im Wandel, wenngleich sich die Veränderungen vielleicht nicht ebenso schnell und drastisch vollziehen wie die in den Langzeitbeobachtungen des amerikanischen Dokumentaristen Camilo José Vergara fixierten Prozesse.

Vergleichbar mit der berühmten französischen Mission héliographique von 1851 konserviert auch in diesem Projekt das visuelle Verzeichnis architektonischer Denkmäler diese virtuell, die steinernen Zeugnisse der Vergangenheit werden von den FotografInnen jedoch in Bezug gesetzt zu späteren Veränderungen und auf die Vereinbarkeit von „Alt“ und „Neu“ befragt. Als ehemaliges „Zonenrandgebiet“ gibt es in der Region Braunschweig über ihre räumliche Nähe zur früheren innerdeutschen Grenze auch heute noch zahlreiche Erinnerungen an Ereignisse und Orte, die zur historischen Untersuchung über die Auswirkungen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und jüngeren Zeitgeschichte einladen. Erlebte das Land und die Region mit dem Fall der Mauer eine signifikante Veränderung, die beispielsweise den Harz-Tourismus und die anliegenden Ortschaften nachhaltig modifizierte, vollzog sich in Braunschweig bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren ein umfassender Strukturwandel mit der Schließung zahlreicher produzierender mittelständischer Betriebe. Die Gleichzeitigkeit der noch immer präsenten Spuren des Zweiten Weltkriegs und aktueller Modernisierungsprozesse, die Verzahnung von Peripherie und Großstadt im Ballungsgebiet Braunschweig, das trotz ansässiger Großkonzerne darum kämpft, mit den Prozessen der Globalisierung mitzuhalten, prägen die Infrastruktur und Perspektiven der einstigen Handelsmetropole, in der mit dem Charme der Wohnviertel der Gründerzeit der Glanz früherer Epochen noch immer deutlich spürbar ist.
Den Arbeiten von Ausstellung und Webseite liegt dabei überwiegend keine Intention der Anfertigung historischer Dokumente zugrunde. Vielmehr geht es um die Auseinandersetzung mit den Fragmenten von Geschichte und derer realer und psychologischer Spuren, als Kommentieren und Neuinterpretieren und als Vermittlung zwischen Vergangenheit und Heute. Dabei zeigen sich die Potenziale der Fotografie, die es vermag, Bekanntes in unvermuteten Blickwinkeln neu zu entdecken und Unbekanntes sichtbar werden zu lassen. In der Unterwanderung tradierter Konventionen und dem Re-Interpretieren von Ereignissen und Momenten regt die Fotografie zum Nachdenken über die den Dingen zugeschriebenen Bedeutungen in subjektiven Akzentsetzungen an.

In der ersten Ausstellung des zweiteiligen Ausstellungsprojekts (Teil 1 der Ausstellung: 23.01. – 22.02.2015, Teil 2 der Ausstellung: 11.12.2015 – 17.01.2016) präsentiert Das regionale Gedächtnis Arbeiten von Mitgliedern des Museums. Parallel zu den beiden Ausstellungen vertieft eine projektbegleitende Webseite den fotografischen Dialog über das kulturelle Erbe der Region. Als digitale Plattform baut die Webseite ein digitales Gedächtnis der Fotografie auf, welches die Fotografie als sinnstiftendes Moment für die Ausbildung von kultureller Identität in der Region erfahrbar macht und indem zahlreiche inhaltliche Bezüge sichtbar werden. Das Webarchiv wurde um historische Positionen aus dem Bestand des Museums und Sammlungen externer Projektpartner ergänzt.

Das digitale Archiv Das regionale Gedächtnis erinnert somit einerseits an bereits existierende historische Positionen und setzt diese in Bezug zu den zeitgenössischen Fotografen. Andererseits stellt es mit den eigens angefertigten neuen Arbeiten zugleich auch die agile Fotografenszene der Region vor. Es richtet ein dauerhaftes fotografisches Gedächtnis der Region ein, das kontinuierlich erweitert werden soll. Ab 2016 lädt das Projekt in einer offenen Ausschreibung Fotografen, die nicht notwendigerweise Mitglieder des Museums sein müssen, dazu ein, Arbeiten einzureichen. Eine Fachjury wird dabei jedes Jahr über die Neuaufnahme eingehender Bewerbungen entscheiden. Die vollständige Ausschreibung finden Sie hier.

Mit dem Aufbau eines fotografischen Gedächtnisses der Region Braunschweig und des Landes Niedersachsens zeigt sich das Museum für Photographie Braunschweig e.V. nicht nur als Ort des Dialoges über die künstlerischen Neuentwicklungen des fotografischen Mediums, sondern wird selbst Teil des Gedächtnisses der Region.